Rezensionen


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COVER DIE BERTINIS
 

Die Bertinis

Ralph Giordano

Eine großangelegte Familien-Saga, ein exemplarischer Zeitroman. Ralph Giordano formt einen bisher wenig beachteten Stoff episch aus: Er erzählt vom Schicksal sogenannter "jüdischer Mischlinge" in den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die Vorgeschichte beginnt Ende des letzten Jahrhunderts, die eigentliche Handlung setzt vor 1933 ein und führt in die ersten Nachkriegsjahre. Ihr Schauplatz: Hamburg - von den Elbvororten bis zum Stadtpark, von Barmbek im Norden bis zum Hafen im Süden, mit unvergeßlichen, in den dramatischen Ablauf verwobenen Gestalten, Bildern, Situationen. Fast unglaublich ist diese Geschichte: Der Autor hat mit seiner Phantasie die nackte Realität überhöht; es ist ihm gelungen, eine sinnfällige Schilderung von Menschen unter bestimmten Bedingungen zu schaffen und eine Zeit zurückzurufen, die mit überwältigender Macht in das Leben aller eingegriffen hat. Er hat das Geschehen und die Figuren frei gestaltet. Hier sind die kleinen Leute mit ihren Schwächen unter dem grausamen Druck des herrschenden Bösen, mit ihren liebenswerten Zügen, mit dem Ausmaß des ihnen zugefügten Leides und der Fähigkeit zum Überleben. Nichts wird geschönt, keine bittere Erkenntnis verschwiegen. Doch was immer es an Furchtbarem gab: die Liebe zu Hamburg, diese ganz unsentimentale Heimatliebe, bleibt unerschüttert und ist entscheidend für die Zukunft der Bertinis.
 
Verlag: Fischer
 

LOGO ANNA 5/5


In einem Satz: »Epische Geschichte einer Familie im Strudel des Nationalsozialismus, erzählt von jemandem, der diese dunkle Zeit selbst erlebt hat.«


Kaum jemand, der sich für den öffentlichen Diskurs und die deutsche Geschichte interessiert, dürfte Ralph Giordano nicht kennen, und wer sich außerdem auch noch für Literatur begeistert, kennt auch unser Buch des Monats, Die Bertinis. Auch ich hatte diesen autobiografischen Roman schon einmal gelesen, dennoch habe ich mich auf dieses Buch gefreut. Für mich ist und bleibt es die Referenz, wenn es um das Thema Hamburg in der Zeit des Nationalsozialismus geht, und daran hat sich nichts geändert. Sprachlich ist der Text für mein Empfinden eher unauffällig, und so sollte es wohl auch sein, den hier stehen die Geschehnisse im Vordergrund, die Erzählungen, die Berichte, die Zeugen einer vergangenen Zeit, die Menschen wie ich nie erlebt haben, die wir aber dennoch nie vergessen dürfen. Damit das klappt, müssen wir diese Zeit spüren und erfahren, Vergangenes muss zum Leben erweckt werden, und genau das tut dieses Buch auf eindrückliche Weise, und deswegen ist es für mich eine uneingeschränkte Leseempfehlung.
Fazit: Ich finde, alle sollten dieses Buch lesen, nicht nur Hamburger, nicht nur Deutsche, alle, denn es geht um urmenschlichste Schwächen, die einen Weltkrieg ausgelöst und unermessliches Leid über die gesamte Menschheit gebracht haben. Das geht alle etwas an.



LOGO FINN 5/5


In einem Satz: »Ein authentisches, aufwühlendes Buch über die Menschen, den Abgrund, das Leid, die Verzweiflung, den Mut, die Hoffnung, das Leben.«



Ralph Giordano hat einige Kontroversen verursacht, um diese geht es in dieser Besprechung nicht, und ich stehe auch nicht mit beiden Beinen fest auf einer Seite. Eines wird von seinen Kritikern jedoch immer vergessen: Auch wenn der Kampf schließlich derselbe sein mag, macht es doch einen großen Unterschied, ob man Angreifer oder Verteidiger ist.
Nun zum Buch. Es ist die Geschichte einer Familie, die auch jüdische Wurzeln hat, in der Zeit der Nationalsozialisten. Zunächst trübt sich das Bild wie so oft langsam ein, doch spätestens mit der Institutionalisierung der rassistischen Ideologie mittels der Nürnbergergesetze wird es auch für die eher weltlich orientieren Bertinis ernst. Diese schleichende Verschärfung wird in dem Roman sehr gut festgehalten, die sich langsam verstärkende Unterdrückung, gegen die viele sich erst zur Wehr setzen, wenn sie selbst richtig betroffen sind, und nicht selten ist es da schon zu spät. Der 2014 verstorbene Autor forderte in Schriften, Büchern, Diskussionen zeitlebens Zivilcourage von allen freiheitlichen, gerechten Menschen. Nicht alle werden dieser Vorstellung gerecht werden, doch hinter diesen Wunsch stellen können sich, so hoffe ich, alle.
Hamburg spielt in Die Bertinis eine große Rolle, und besonders der Bombenkrieg, der die Stadt so geprägt hat, verschlägt einem auch hier wieder regelrecht die Sprache und macht hilflos und traurig.
Fazit: Pflichtlektüre für Menschen unter achtzig.



LOGO ELIN 5/5


In einem Satz: »Autobiografischer Roman, der zeigt, wie das Leben im dritten Reich wirklich war, und weshalb man wahre Helden erst erkennt, wenn sie tatsächlich gebraucht werden.«


Das ganze Elend des Nationalsozialismus spiegelt sich in diesem eindrücklichen Roman, aber auch in diesem Buch erschüttert mich die moralische Anpassungsfähigkeit der Menschen am meisten. Wie viele würden zu Mitläufern, um selbst nichts zu riskieren, um selbst nichts zu verlieren, gar um selbst zu profitieren? In meiner Jugend haben mich laut schreiende Papierhelden beeindruckt, die im Wirtschaftswunder aufgewachsen sind und sich in grenzenloser Eitelkeit und Anmaßung gegenüber den Menschen, die jene Zeit tatsächlich erlebt, erdudelt, vielleicht sogar überlebt haben, mit Worten wie Widerstand, Freiheit und Mut schmücken, ohne diesen Mut je selbst unter Beweis gestellt zu haben. Derlei Illusionen vom reinen, unbeugsamen Kämpferherz habe ich längst abgelegt, auch mir selbst gegenüber. Erst wenn es wirklich ernst wird, wird sich zeigen, wer wahrlich Mut hat, wer wahrlich aufsteht, wer wahrlich für andere einstehen, kämpfen und bluten wird, auch wenn es alles kostet. An genau diese fundamentale Erkenntnis erinnert dieses Buch auf achthundert schweren, wichtigen, zeitlosen Seiten, und deshalb gehört es in jedes Bücherregal.
Fazit: Ein Buch für Menschen, die sich nicht davor fürchten, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Nichts für jene, die das Wort Demut nicht verstehen.



LOGO MAJA 5/5


In einem Satz: »Wichtiges, teils autobiografisches Werk eines Zeitzeugen über die dunkelste Epoche Deutschlands und ganz besonders auch unserer Stadt Hamburg.«


In Die Bertinis wird erzählt, wie eine teilweise jüdische Familie die Entstehung des dritten Reiches und den Krieg erlebt. Ich bin jung und habe keine Verwandten, die mir vom Krieg erzählt haben. Alles, was ich weiß, kenne ich aus Filmen, Büchern, Ausstellungen und dem Schulunterricht. Ich fühle mich nicht schuldig für die Greuel des zweiten Weltkriegs, aber ich fühle mich verpflichtet, mich mit dem Leid und all den Dingen, die dazu geführt haben, zu konfrontieren, sie zu reflektieren, sie nie zu vergessen. Ich glaube nicht, dass deutsche Menschen schlechter sind als andere, aber ich glaube auch nicht, dass sie für immer gefeit sind gegen die Schwächen eines jeden Menschen. Deshalb finde ich Bücher wie Die Bertinis unheimlich wichtig. Im Gegensatz zu den Urgroßeltern sterben sie nicht lange vor der Geburt der Urenkelin, sie bleiben uns erhalten und erinnern uns an das, was geschehen ist, und dadurch erlauben sie uns, aus der Vergangeheit zu lernen und Wege zu finden, das grenzenlose Leid nicht zu wiederholen.
Ebenfalls nicht auslassen möchte ich, dass mich dieses Buch auch emotional sehr berührt hat, weil es mir eine Sache, die mich ganz besonders erschüttert, wieder einmal mit Nachdruck in Erinnerung gerufen hat, nämlich die Flächenbombardierungen der Alliirten, besonders der Royal Air Force am Ende des Krieges. Die auf diese Weise von Menschen erschaffenen, infernalische Monster der Feuerstürme sind für mich ein Albtraum, den ich von einer mit der Schulen besuchten Ausstellung in meinem Herzen für immer mit nach Hause genommen habe. In der Ausstellung gab es eine Art Installation mit einer runden Leinwand, in der man in den Straßen Hamburgs in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1943 stand, mit Geräuschen und Gerüchen und so etwas wie Rauch. Dieses Erlebnis hat mich tief erschüttert, das hat mich regelrecht auf den Asphalt dieser heißen, trockenen Sommernacht getragen, die Schreie und die Bomben und das Gefühl, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Danach habe ich viel über den Feuersturm in Hamburg und auch diejenigen in anderen Städten nachgelesen und herausgefunden, dass die Flächenbombardierungen des besiegten Deutschlands auch in der Royal Air Force umstritten waren und bis heute geblieben sind. Als ich mir in London das recht neue Denkmal für die Bomberpiloten angesehen habe, die in jener Nacht in Hamburg dreißigtausend Menschen getötet haben, hatte da jemand auf Englisch eine Relativierung der Heldenverehrung auf den edlen Stein gesprayt. Das hat mir irgendwie Hoffnung gegeben, obwohl ich das Risiko, das die britischen Piloten auf sich genommen haben, keinesfalls verkenne. Viele sind nie auf die Inseln zurückgekehrt, und kaum einer hat Hamburg angesteuert, um Menschen zu verbrennen, auch sie waren Opfer eines grausamen Krieges, viele von ihnen jünger als ich, Kinder einer schrecklichen Zeit. Die Welt und die Menschen lassen sich nun einmal nicht in Schwarz und Weiß einteilen, alle können schwach und stark sein, alle können leiden und Leid verursachen, und genau das weiß dieses Buch, obwohl es von einem Opfer geschrieben wurde, und deshalb müssen es alle lesen.
Fazit: Muss man gelesen haben.