Rezensionen


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COVER GRASLAND
 

Grasland

Clara Edenbaum

Die Chronik eines schicksalhaften Novembers im Leben einer außergewöhnlichen jungen Frau zwischen Aufbruch und Abgrund. In unvergleichlicher Sprache führt die Autorin durch die warmen Sommernächte im Grasland, wo das Leben glüht. Unerbittlich, erregend, erotisch, erschütternd, poetisch, jedes Wort sitzt, jeder Satz wiegt schwer. Das ewige Thema der Menschheit, schonungslos kartografiert, und doch trieft jede Seite vor Liebe, für die Lust, für das Leben, für die Freiheit, einen anderen Weg zu gehen.

Verlag: NPI
 

LOGO ANNA 4/5


In einem Satz: »Emotionaler Einblick in ein junges Leben am Scheideweg, erzählt in karger, poetischer Sprache.«



Dieses Buch ist für mich ein Augenöffner in mehrerlei Hinsicht, und das fängt schon mit den ersten Zeilen an, die Geschichte wird nämlich in der Gegenwart erzählt, was ich eigentlich nicht leiden kann. Hier jedoch funktioniert es richtig gut. Erstaunt, aber nicht ungern gebe ich zu, dass es wohl tatsächlich Texte gibt, die in der Gegenwartsform geschrieben werden sollten. Ich habe etwas gelernt.
Nun zum Inhalt. Das Buch ist die Aufzeichnung eines Monats im Leben einer jungen Hamburgerin, dreißig Novembertage, dreißig Kapitel, erzählt von der Protagonistin Lina. Zu Beginn scheint ihr Leben in gewohnten Bahnen zu verlaufen, doch nach und nach tauchen Risse auf, und am Ende des Monats ist alles anders. In gewisser Weise ist es die Geschichte eines Zusammenbruchs, eines Wendepunktes in einem doch eher ungewöhnlichen Leben, denn die Erzählerin ist ein käufliches Mädchen edelster Art. Ihre Klienten bezahlen und verlangen viel, und sie betreibt einigen Aufwand, um höchsten Ansprüchen zu genügen. Da Linas Arbeit in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielt, kommt besonders in der ersten Hälfte viel Erotik unterschiedlichster Art vor. Wer sich mit Sex in Büchern schwertut, sollte deshalb die Finger von Grasland lassen. Für den Rest von uns eröffnen sich Welten, denn die Frau weiß nicht nur unglaublich viel über das Thema, sie findet auch jede Menge persönliche Erfüllung darin und beschreibt erotische Begegnungen nicht nur geistreich und direkt, sondern durchaus auch lustvoll. Dass kaum etwas vielschichtiger ist als die menschliche Sexualität, und dass es auch jede Menge dunkle Seiten gibt, weiß jedoch niemand besser als die Protagonistin, und so sind es schließlich auch erotische Erlebnisse, die zum Dammbruch in Linas Gefühlsleben führen. Die Vielzahl der angesprochenen Aspekte dieses urmenschlichsten aller Themen bietet Gesprächstoff für mehr als eine lange Nacht unter Freunden oder Liebenden.
Im letzten Drittel spielt Erotik keine große Rolle mehr, nun geht es um existenzielle Fragen im wahrsten Sinne des Wortes, und hier wird der Text nun richtig stark. Hat man sich bis hierhin gewissermaßen in Sicherheit gewogen und gedacht, man habe ganz einfach ein kluges Buch über menschliche Sexualität vor sich, zieht die Autorin einem nun regelrecht den Boden unter den Füßen weg. Wer Lina am Ende nicht ins Herz geschlossen hat und um sie bangt, hat gar kein Herz.
Nur vier Punkte vergebe ich, weil in diesem Buch eine Menge Sex vorkommt, und damit tun manche Menschen sich sehr schwer. Anders als bei den meisten Büchern kann man hier jedoch nicht einfach darüber hinweglesen, weshalb Grasland für solche Leser und Leserinnen praktisch unlesbar ist, und das ist eine Einschränkung, die ich in meiner Bewertung berücksichtigen möchte.
Fazit: Wer kein Interesse an Sex hat, sollte besser die Finger davon lassen, für alle anderen eine absolute Leseempfehlung.



LOGO FINN 5/5


In einem Satz: »Unglaublich starkes Debüt einer Autorin, die halb so alt ist wie Charlotte Roche und doppelt so viel von Literatur und menschlicher Lust versteht.«


In Grasland erzählt eine zweiundzwanzig Jahre alte Edelprostituierte namens Lina in der Ich-Form, was in jenem November geschah, in dem ihr Leben aus den Fugen geraten ist. Ein Kapitel entspricht jeweils einem Tag, wie in einem Tagebuch, die Texte sind aber keine Tagebucheinträge, weil die Protagonistin viele Dinge erzählt, die man sich nicht selbst in einem Tagebuch erklären würde. Es ist eher so, als ob sie zu einem Freund sprechen würde, so fühlt man sich als Leser. In der ersten Hälfte spielt Sex eine große Rolle, dann bricht alles zusammen, und Lina steht vor der ganz großen Entscheidung. Ob es ihr gelingt, ein anderes Leben zu finden, soll nicht verraten werden, dass viele am Ende dieses Buches weinen werden, steht jedoch fest.
Grasland wird offenbar mit Feuchtgebiete von Charlotte Roche verglichen. Darüber kann man nur den Kopf schütteln. Die beiden Werke könnten kaum unterschiedlicher sein. Feuchtgebiete ist ein Kleinkind, das seine Eltern schockieren will, dieses Buch ist der furchtlose Blick einer richtig klugen Frau in die dunkelsten Ecken der menschlichen Seele. Viele werden sich in einem der zahlreichen Spiegel der Autorin erkennen, doch von Anfang an spürt man, dass sie niemanden beschämen oder anklagen will. Sie hat das richtige Herz, um einen liebenden Blick in die schattigen Ecken des echten Lebens zu werfen. Dafür bin ich dankbar. Dieses Buch hätte ich lesen sollen, als ich achtzehn war. Sprachlich ist der Text ein Meisterwerk kompromissloser Reduktion. Kein überflüssiges Wort hat seinen Weg in die Erzählung der Protagonistin gefunden, und das verstärkt die ohnehin große emotionale Wirkung der Geschichte zusätzlich. Ich ärgere mich oft über langatmige Beschreibungen unbedeutender Alltäglichkeiten in zeitgenössischen Romanen. Nicht jede belanglose Kleinigkeit aus dem Leben des Autors oder der Autorin, die in sozialen Medien ein Like einzuheimsen vermag, gehört auch in ein literarisches Werk. Nach Grasland habe ich für Selbstverliebtheiten dieser Art noch weniger Verständnis.
Ich mag es sehr, wenn in ernsten Büchern dennoch auch mal Humor vorkommt, wie im echten Leben, wo selbst in tragischen Situationen plötzlich etwas komisch sein kann. In Grasland gibt es nichts zu lachen, aber an zwei Stellen hat die Autorin eine Ausnahme gemacht. Bei der ersten Stelle musste ich laut lachen, der Spruch ist urkomisch und kommt völlig unerwartet, in einer Situation, in der man keine Scherze erwarten würde. Die zweite Stelle ist eher zum Schmunzeln, aber auch sie ist gut platziert, weil sie auf geschickte Weise zeigt, dass in Lina trotz all ihrer Erfahrungen doch auch noch das Herz eines Mädchens schlägt.
In dem Buch werden eine Handvoll Straßen, Brücken und Orte erwähnt, aber Leute, die Hamburg nicht kennen, werden einfach darüber hinweglesen. An einer Stelle jedoch verabschiedet sich Lina von Hamburg, und das ist richtig stark, da pocht das Herz vor Wehmut. Ein Abstecher nach Kiel kommt in dem Buch auch vor, was ich natürlich zu schätzen weiß, besonders weil Kiel für Lina nur Gutes verheißt.
Da das Buch autobiografisch zu sein scheint, möchte ich an dieser Stelle noch Imke und Frank danken, wie auch immer sie im richtigen Leben heißen mögen. Es ist doch noch nicht alles verloren.
Fazit: Beeindruckendes Erstlingswerk, geschrieben in einem unverwechselbaren Stil eleganter Verknappung. Eine Ode an die Lust, aber auch ein Blick in die Abgründe eines für mich und wohl die meisten Leser und Leserinnen fremden Lebens. Jedes zukünftige Buch dieser Autorin wird unbesehen gekauft.



LOGO ELIN 5/5


In einem Satz: »Ein einziges, langes, poetisches Gedicht von karger Schönheit über Lust, Schuld, Reue, Untergang und Aufbruch, und ganz nebenher bekommt man auch noch die schönste Liebeserklärung an Hamburg zu lesen.«


Ich sage es gleich zu Beginn, ich liebe dieses Buch, weil es in sich vollkommen ist, ein Kunstwerk, für dessen Art von schlichter Schönheit ich sehr empfänglich bin. Durchzogen von Wendungen und Begriffen aus der Seefahrt zieht die Sprache einen von den ersten Zeilen an in ihren Bann, unaufgeregt und ruhig, und doch unheimlich berührend, man kann es nicht beschreiben.
Zu Beginn liest Grasland sich wie ein erotischer Roman mit literarischem Anspruch, doch schon bald geht es ans Eingemachte. Dieses dünne Büchlein teilt richtig aus, und die Hiebe sitzen. Unbarmherzig und zielsicher greift die Autorin nach den Dingen, die wir verstecken, nur um sie behutsam in ein warmes Licht zu legen und ihnen ein Lächeln zu schenken, und das gelingt auch sprachlich. Ich kenne kein anderes Buch, das fleischliche Lust auf so ehrliche, direkte Weise in Lust an Sprache zu übertragen vermag. Hier bekommt man nicht die tausendste peinliche Umschreibung zu lesen, hier lernt man wundervolle, sinnliche, unverschämte Wörter, die man in der Dunkelheit zugeflüstert bekommen möchte. Immer wieder hat mich das Buch daran erinnert, wie sehr ich Sprache liebe. Eine Handvoll sorgfältig gewählte Worte, und Welten tun sich auf.
Gleich zu Beginn lässt die Erzählerin uns wissen, dass Namen wichtig für sie sind, und wer diesbezüglich aufmerksam liest, dem vertraut die Autorin ein Geheimnis an, das mich tief berührt hat, auch weil es auf so schonungslos direkte und doch subtile Weise offenbart wird. An dieser Stelle haben mir die Ehrlichkeit und Weisheit dieser blutjungen Frau für einen Augenblick die Sprache verschlagen. Respekt.
Da die Geschichte ja zu weiten Teilen autobiografisch zu sein scheint und Namen auch für mich wichtig sind, konnte ich es mir nicht verkneifen, am Rathausmarkt nach den beiden im Buch erwähnten Namen zu suchen. Zwei Mal habe ich mich vergeblich bemüht, doch beim dritten Mal habe ich sie schließlich gefunden. Kleiner Tipp: Die Namen sind nicht da, wo man sie aufgrund der Informationen im Text zunächst vermuten würde. Ich hatte erwartet, dass einer der Namen anders sein würde als im Text, aber die Namen entsprechen tatsächlich exakt denjenigen im Buch, und unterdessen glaube ich auch zu wissen, weshalb das so ist.
Fazit: So ein Buch schreibt man nur einmal im Leben. Die Autorin ist dreiundzwanzig Jahre alt. Unfassbar. Zu wissen, dass sie aufgebrochen ist, macht mich glücklich.



LOGO MAJA 5/5


In einem Satz: »Ein Buch über Sex, Verlust, Reue, und wie ich finde auch Liebe, das alle, die sich dann und wann an fremder Haut reiben, ganz einfach gelesen haben müssen.«


Ich habe mich sehr auf dieses Buch gefreut, weil die Autorin wie auch die Protagonistin wohl nur ungefähr ein Jahr älter sind als ich und das Buch auch noch weitgehend in Hamburg spielt. Meine Erwartungen in dieser Hinsicht wurden erfüllt, ich fühle mich der Protagonistin nahe, obwohl unsere Leben völlig verschieden sind. Vielleicht liegt das ganz einfach an der Sprache. Die Autorin versucht nicht, sich mit erzwungenen literarischen Referenzen und gestelzten Formulierungen wichtig zu machen. Die Geschichte wird auf eine ungewöhnliche Weise erzählt, die man als poetische Sachlichkeit bezeichnen könnte. Subtile Wortspiele und kluge, wunderschöne Metaphern an den genau richtigen Stellen lassen keine Zweifel daran, dass der Text mit großer Sorgfalt geschrieben worden ist, und doch liest er sich leicht, fast wie ein Tagebuch. Ich liebe diesen Stil.
Nun zum Inhalt. In dreißig Kapiteln berichtet die Erzählerin von den Geschehnissen eines besonderen Novembers, in dem sich ihr Leben komplett verändert hat, wobei jedes Kapitel jeweils einem Tag gewidmet ist. Zunächst erfährt man einiges über das Leben der Protagonistin Lina. Sie ist ein besonders edles Freudenmädchen, und ihre Kunden könnten weder anspruchsvoller noch verschiedener sein. In diesem Teil spielt Sex eine große Rolle, und es macht mir nichts aus, zuzugeben, dass der Text mitunter ganz einfach erregend ist, wie ein gut geschriebener erotischer Roman. Ich habe Begriffe gelernt, die mir nicht so schnell aus dem Kopf gehen werden. Nach und nach macht Sex dann tieferen Strömungen Platz, und im letzten Drittel hat man Angst, das nächste Kapitel aufzuschlagen, weil man sich solche Sorgen um Lina macht. Die letzten Seiten konnte ich vor Tränen kaum lesen, dennoch habe ich das Buch unterdessen schon ein zweites Mal gelesen, ganz einfach weil ich noch einmal so berührt werden wollte. Der Text ist pures, destilliertes Leben.
Nun zu Hamburg: Die Stadt spielt in diesem Buch eigentlich eine Nebenrolle, und doch glaube ich, dass die Geschichte nirgendwo sonst eine so große Wirkung entfalten könnte, zumindest nicht für ein Nordlicht wie mich. Die Redewendungen und Metaphern aus der Seefahrt, die Namen und Orte, all dies öffnet irgendwie mein Herz. Alles passt zusammen, ein in sich geschlossenes Werk, das man immer wieder lesen möchte.
Fazit: John Green bleibt auf dem Nachttisch, aber das ist mein neues (Erwachsenen-)Lieblingsbuch.